Mittwoch, 22. Oktober 2014

Eiszeit


Beim Blick auf den weißen Hügel fallen mir die Murmeltiere auf, die mit einem schrillen Pfiff in ihren Erdhöhlen verschwinden. Der Wetterumschwung hat heftige Schneestürme gebracht, mir ist kalt, äußerlich und ums Herz. Unser kleiner Fluss ist zu einem reißenden Bach geworden, in dem Eisschollen treiben. Jenseits, in den Bergen, krachen die Geweihe von Steinböcken aneinander, im Rudel jagen Gämsen an mir vorbei, ich sehe das erste Schneehuhn, es ist erfroren.
„Normalklima“, habe ich gelesen, „bedeutet  nicht vergletscherte Erdpole“. Bisher waren die Pole der nördlichen und südlichen Hemisphäre mit einem Eispanzer bedeckt. Seit dem letzten Jahrzehnt erfolgt der Umschwung, es geht schnell, viel zu schnell, die Gletscher kommen immer näher, die mit Eis und Schnee bedeckten Flächen werden zusehends größer, klirrende Kälte greift nach dem Leben.
Bei der anhaltenden Kältephase funktioniert das Internet nur noch sporadisch, in den Nachrichten sucht der Sprecher ein letztes Mal händeringend nach einer Erklärung. Er berichtet von Klimaschwankungen, verringerter Sonnenaktivität, geringfügiger Erdbahnänderung, Neigung der globalen Erdachse, fehlendem Wärmetranssport durch die Meerstraßen, Nachlassen des Golfstroms, Magnetumpolung. Alles gemeinsam trage zur Vereisung bei, nichts Genaues weiß man nicht.
„Wir müssen gehen, heute noch“, sage ich zu meinen Leuten, die sich nicht vorstellen können, dass wir einschneien, unter Schneemassen erfrieren, vom Gletscher überrollt werden, unter einem Eispanzer verschwinden. Große Teile Asiens, Europas und Nordamerikas sterben den Kältetod. Wir ziehen uns an, vermummt brechen auf, lassen alles zurück. Unser Ziel ist das geschrumpfte Mittelmeer, wo sich die Grenzschützer auf der anderen Seite die Geschichte einer umgekehrten Flucht erzählen.

Als sie wegen Dürre und Hunger, Seuche und Krieg zu uns kamen, sich in unsere Richtung in Bewegung setzten, haben wir ihre Schiffe, voll mit Flüchtlingen, abgefangen und zurückgeschickt, Mauern gebaut, hoch und lang, aus Stacheldraht mit messerscharfen Spitzen. Nur wenige Jahrzehnte ist es her, da lief der Tross de Asylsuchenden entgegengesetzt, von den heißen Ländern in klimatisch erträglichere, ertragreichere Gegenden. Was jetzt mit uns geschieht, wissen wir nicht, noch hoffen wir, dass unsere Erde nicht zu einem Schneeball wird. ENDE

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