Samstag, 28. September 2013

Leseprobe aus Historischem Roman



Leseprobe aus „Aber Andania liegt anderswo“

Kapitel „Samos“




»Samos! Samos!«, klang es bei jedem Ruderschlag, und die Flöte spielte im Takt dazu. Zum Greifen nahe präsentierte sich die Insel, die mit rund 600 Stadien Umfang wohl doppelt so groß wie Ikaria war.

„Leute, hier gibt's sogar Vogelmilch“, brüllte beim Anblick des Ziels der zweite Offizier. Durch die Reihen der Ruderer ging ein Raunen, das sich wie eine Welle vom Oberdeck bis zur mittleren Rojegruppe und dann hinunter zur dritten Garnitur fortsetzte. Selbst der strenge Rhythmus der Melodie setzte für ein paar Schläge aus.

Auf dem Hinterdeck hob der aufgebrachte Steuermann drohend seine Faust in die Höhe und ließ eine Schimpftirade auf die Unachtsamen los. Unter dem Knallen der Peitsche verflog das sich ausbreitende Hochgefühl. In dem Augenblick, als die Lederstreifen auf die gekrümmten Rücken niedersausten und den Rojern klarmachten, dass es mit dem Kühlen der Schwielen an den Händen und dem Ausruhen der wunden Hintern noch eine Weile Zeit hatte, da sah Archias zufällig direkt in das ausdruckslose Gesicht des messenischen »Hundes«.

Der unternehmungslustige Blick aus den Augen des Spartaners traf mit dem seelenlos stumpfen des Sklaven zusammen. Ein unangenehmes Gefühl, das ihn für den Rest des Tages nicht mehr los ließ, beschlich Archias. Dieser messenische Riese war ein personifizierter Vorwurf. Archias, wieso bist du so geworden, wie du bist? Mit einer raschen Hinwendung zu Lykopas versuchte er sich vor der aufkommenden Erinnerung zu retten.

Immer deutlicher erkannten sie Einzelheiten auf der Insel, die im Näherkommen ihres Schleierkleides beraubt wurde und im klaren Licht voll saftiger Schönheit lockte. Hin und wieder glaubten sie im Süden der Insel die weißen ionischen Säulenreihen des sagenhaften Tempels hervorschimmern zu sehen. Wenig später winkte einladend der am Strand von einer schützenden Mole umgebene Handelshafen mit seinen langgestreckten Schiffshäusern. Staunend beäugten sie den zwanzig Klafter tiefen und über zwei Stadien langen Damm.

Noch schien die Mehrheit der Inselbewohner nichts von der heran schwimmenden Gefahr zu wissen. Der vertraute Anblick der samischen Eberköpfe auf den vierzig Trieren, die den Hafen absperrten, täuschte auch sie.

Aber nachdem das erste Soldatenschiff aus der Peloponnes sich durch geschickte Schläge auf den beiden äußeren Ruderreihen in die Nähe des Landes gebracht hatte, war jegliche Unklarheit beseitigt. Jeder in der Stadt wünschte sich nun, es wären beizeiten Steine der Kyklopen als Mauern aufgehäuft worden. Jetzt war keine Gelegenheit mehr, versäumtes Befestigungswerk nachzuholen, denn die Landungstruppen brandeten ans Ufer. Neben den niederen Chargen der Waffenträger quollen die Schwergerüsteten aus dem Schiffsbauch und schwappten gleich giftigen Wellenkämmen über den Strand zur Vorstadt hin.

Wäre nicht im letzten Augenblick vor dem Ansturm die offizielle Kriegserklärung hinüber geschmettert worden, so hätte dieser Blitzangriff mit Leitern und Fackeln eher einem Seeräuberüberfall geglichen als einem taktisch einheitlichen Vorgehen in der Landschlacht erfahrener Truppen. Die Korinther sicherten die See und den Spartanern war nur zu klar, dass ihre größte Chance im Überraschungseffekt lag. Wenn es beim ersten Ansturm nicht gelang, Samos zu nehmen, dann waren sie genötigt, fern der Heimat eine lange Belagerung ausführen, bei der auch die Zeit zu ihrem Gegner würde. Sie hatten es so eilig, dass sie zunächst auf die Errichtung eines Schiffslagers verzichteten und sich an der Mauer festbissen. Sie berannten den Turm am Meer und erstiegen ihn wie einen niedrigen Kletterbaum.

Zu jenen, die sich von dort aus einen ersten Überblick verschafften, zählten auch Archias und Lykopas. Beim letzten Halt zum Einholen von Frischwasser und neuen Vorräten hatte der den König begleitende Ephor die Anwesenheit von Spähern gefordert. Sie sollten sich sofort beim Anlanden den Sturmtruppen anschließen und ihr Augenmerk weniger auf die Kämpfe, als auf mögliche Schwachstellen in der Verteidigungsanlage richten. Nun sahen sie sich um, damit sie erkundeten, wo anzusetzen war, falls wiederholtes Berennen notwendig wurde.

Ihre eigentliche Aufgabe hatten die beiden Kundschafter erst kurz bevor sie frisch gesalbt durch das seichte Wasser stampften vom König persönlich erfahren: Sie sollten in der allgemeinen Verwirrung in die Vorstadt eindringen und sich zu einem genau bezeichneten Wohngebäude durchschlagen, um dort Verbindung mit Angehörigen und Freunden der Aufständischen aufzunehmen.

Während Lykopas schon im Gefolge der durch andere Eidgenossen angeführten Kämpfer beim Hinabsteigen war, stand Archias noch immer auf dem von den samischen Wachen fluchtartig verlassenen Aussichtsturm. Er spähte hinauf zum Burgberg und betrachtete eingehend die darunter liegende Stadt zwischen den grünen Reben und Ölbäumen. Der weiße Glanz ihrer Häuser, die sich in der sonnigen Ebene ausbreiteten oder den Hang hinauf klommen, berauschte ihn.

Zu seiner Rechten befand sich das Vorgebirge, das mit seiner Felsenzunge die Meerenge zum wild- und waldreichen Mykale ausschlürfen wollte, um genüsslich von der asiatischen Küste kosten zu können. Doch ein Blick in diese Richtung lohnte sich trotzt des dort vermuteten Poseidontempels nicht, denn der Hauptschatz war links beim Bach zu suchen. Am Ende der Säulenstraße mit den kolossalen Statuen und den vielen Altären wartete der Riesentempel der Mondgöttin auf seinen Besuch. Eine Wegstunde von der Stadt entfernt und unweit des Meeres gelegen war er durch seine Pracht und Größe weithin berühmt.

Wie ein Gott fühlte er sich, als er in der Stadt die winzigen, in kostbare Gewänder gehüllten Gestalten durch die malerischen Gassen hasten sah. Mit Kind und Habe suchten sie Zuflucht in einem Tunnel, von dem bekannt war, dass er hinauf zum Berg führte. Die nach Sparta gekommenen Samier hatten darüber berichtet: Der Stollen, den Gefangene aus Lesbos gegraben hätten, durchschneide mannshoch den Berg. In dem Graben fließe auch eine Röhre, die Wasser von oben aus der Quelle bis hinunter in die Stadt bringe. Der Baumeister Eupalinus aus Megara habe nicht nur eine Wasserleitung geschaffen, sondern ein begehbares Meisterwerk.

Beim Betrachten all dieser Herrlichkeit überkam den jungen Spartaner für kurze Zeit die Ahnung, bisher im Leben vieles, wenn nicht gar das Schönste, versäumt zu haben. Von Kindheit an nur ans Lagerleben gewohnt, weit entfernt von weichen Betten und schmucken Kleidern, schmolz sein überlegenes Herrengefühl vor der samischen Wirklichkeit hinweg und machte Fragen Platz, die er sonst immer verdrängt hatte. Er liebäugelte nicht mit Weichlichkeit oder orientalischem Prunk, aber es dämmerte ihm, dass es noch andere Wege und andere Kulturen gab, die lebens- und liebenswürdiger sein mochten. Herausgerissen aus dem »Spartanischen« und in diese Welt versetzt, sah er natürlich den Unterschied zwischen den groben heimischen Holzhäusern und den zierlichen Spielereien der Baumeister von Samos, der kalten Halle der Athene im ehernen Haus und den schwungvollen Göttertempeln vor Ort.

Schlagartig wurde ihm deutlich, weshalb es den Alten vorbehalten blieb, ihren Fuß in andere Städte zu setzen, mit dem Gebot, nirgends zu verweilen und nach Durchführung ihres Auftrages schleunigst zurückzukehren. Er selbst hatte Lakedämon bisher lediglich mit der Waffe in der Hand verlassen und Fremden nur in der Hitze des Kampfes ins Gesicht gesehen. Als Sieger war er über Minderwertiges hinweggeschritten.

Würde er je wieder diese bescheidenen Dörfer, die sich Sparta nannten, mit der gleichen stolzen Demut betrachten können, die er vor dieser Reise im Herzen getragen hatte? Die Welt war ja soviel größer und nicht auf das eingeschränkte Blickfeld knapp über dem Rand eines Schildes beschränkt! Was blieb von Sparta übrig, was wies auf seine Größe hin, wenn der Waffenruhm abgezogen wurde? Gleichheit? Bescheidenheit? Ehrgefühl? Ob das die Tugenden waren, die am meisten im Gedächtnis bleiben würden?

„Mach den Mund zu und steh da oben nicht unnütz glotzend herum“, drang Lykopas barsche Stimme an sein Ohr.

Archias riss sich los, schüttelte den Kopf und war wieder ganz der junge, auf eingebläuten Gehorsam bedachte Spartanerspross mit harten Augen und zusammengebissenen Zähnen. Eile war geboten, denn schon rückten bewaffnete Scharen gegen die Eindringlinge vor, in deren Mitte, umringt von fremden Söldnern und den Bogenschützen seiner Leibwache, der Herrscher von Samos selbst herabzog.

Sich vom Schauspiel der vor- und wieder zurückweichenden Massen lösend, folgte der junge Spartaner seinem Freund, kletterte hinunter und ließ sich fallen. Mit Genugtuung bemerkte er, dass hier unten die Stellung aufgegeben worden war und die Samier die Beine in die Hand genommen hatten, ohne einen Blick nach hinten zu werfen.

Die beiden Freunde robbten auf dem Boden voran und nutzten die natürlichen Deckungsmöglichkeiten in dem unebenen Gelände. Sie verschmolzen mit den Büschen und Steinen, bis sie sich zum ersten Bauwerk vorgearbeitet hatten, wo sie abwartend kauerten.

Die Kameraden, die ihnen mit ihren schweren Waffen den Turm freigekämpft hatten, waren dem Pfeilhagel von tausend Bogenschützen ausgesetzt und igelten sich mit ihren Schilden ein. Aus weiter Ferne kam das Signal zum Rückzug, das Waffenklirren, Hauen, Hasten und die Schreie ebbten ab, um einer nahezu gespenstischen Stille Platz zu machen. Da erkannten sie, dass sie alleine waren. - Zwei verdutzte Helden, die sich im Lager des Feindes ins Hemd schissen, aber noch besorgt waren, der andere könne es riechen. Die Sonne verließ sie, aber mit der Dämmerung trauten sie sich aus ihrem Loch, zunächst auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem, dann zuversichtlicher sich vorarbeitend.

Dabei kamen ihnen ihre Erziehung und die lange Übung sehr zustatten. Mit sieben Jahren war ihre Kindheit zu Ende gewesen und das Leben in der Horde hatte begonnen. Da gab es keine Mutter mehr, zu der sie sich nach wildem Spiel hätten flüchten können, keinen verständnisvollen Vater, sondern viele Männer, die alle das Recht zur Erziehung und Züchtigung für sich in Ansprach nahmen, keinen gedeckten Tisch zuhause, nur den Erdboden und die ihnen absichtlich knapp zugeteilte Gemeinschaftskost, die es durch Felddiebstähle zu ergänzen galt.

Wer es geschickt verstanden hatte, Essbares unbemerkt herbei zu schaffen, der war sich der Bewunderung seiner Altersgenossen und des Lobes durch den Gruppenführer sicher gewesen. Nur wehe dem Tölpel, der sich hatte erwischen lassen, dem war kein Fleckchen auf dem Körper unberührt von Schlägen geblieben und zur Strafe war noch der Spott der Kameraden hinzugekommen. Archias hatte nie einen Tadel wegen Ungeschicklichkeit beim Stehlen erleiden müssen, sondern mehr als alle anderen Anerkennung für sein schlaues Vorgehen geerntet. Einmal war es ihm gelungen, einen Arm voll Gemüse von einem Karren zu entwenden und außerdem noch ein saftiges Stück Fleisch aus dem Speisesaal der Männer. Da hatte der Knabenaufseher ihm allein eine große Portion zugeteilt und den Rest den Schweinen vorgeworfen, weil er der Ansicht gewesen war, auch die anderen Knaben seiner Herde müssten sich im Organisieren von Nahrungsmitteln üben. »Heute wird nichts gekaut, was nicht jeder selbst geklaut hat«, hatte er gesagt. »Oder glaubt ihr vielleicht, im Feindesland ist immer ein Archias da, der euch mit durchfüttert?«“

Daran dachte Archias, während er sich auf leisen Sohlen immer noch ein Stückchen weiter vor schlich. Weisungsgemäß suchten sie das längliche Ziegelhaus mit den Schnitzereien am Tor, wo sie Kontakt mit den noch in den Mauern lebenden Gegnern des Polykrates aufnehmen sollten. Doch die Söldner des Tyrannen schienen in der Zwischenzeit mit allen verdächtigen Personen gründlich aufgeräumt zu haben. Sie fanden das Gebäude bis auf die Grundmauern niedergebrannt und kein Zeichen des Widerstandes. Jetzt konnten sie nur noch versuchen, zum Strand zurückzuschleichen und zu ihrem Schiff zu gelangen.

Dicht an den Erdboden gepresst kroch Lykopas seinem jungen Kampfgefährten hinterher, überholte ihn um eine Körperlänge und gab Archias mit der Hand ein Zeichen, inne zu halten. Eine Weile lauschten sie einträchtig auf die Geräusche der Stadt und merkten sich die Lage der vom fahlen Mondlicht beschienenen Straßenzüge. Über allem lag ein unwirklicher Friede, keine Menschenseele zeigte sich in ihrer Nähe, nur am Berghang flackerten viele Lagerfeuer.

Archias bekam eine Gänsehaut, denn plötzlich hatte er den Eindruck, auf einem Grabhügel zu liegen. Sein Herzschlag drohte auszusetzen, um dann nur noch lauter klopfend das Tempo des beschleunigten Atems anzunehmen. Vergeblich versuchte er sich ins Gedächtnis zu rufen, dass er in Sparta beim nächtlichen Mutgang über die dunklen Stätten der Toten immer derjenige gewesen war, der sich am wenigsten gegruselt hatte.

„Vom Turm sieht mich etwas an, so starr wie die Augen des Messeniers“, flüsterte er aus ausgedörrter Kehle.

Lykopas verschloss den Mund des Jüngeren mit seiner Hand. „Still! du siehst Gespenster!“, zischte er ihm leise ins Ohr.

Da wurde es um sie herum schlagartig lebendig, überall tauchten Fackeln auf und aus allen Richtungen erschallten Rufe. „Da sind noch welche! Schlagt sie tot! Jagt die Schlangenfresser!“

Sie spritzten auf und rannten um ihr Leben. Auf der anderen Seite, wo in dieser ersten Nacht ebenfalls kaum jemand ein Auge zumachte, war der Tumult nicht ungehört geblieben. Die peloponnesischen Soldaten brüllten zurück, schlugen an ihre Schilde, und einige kamen mit Leitern. Über die Köpfe der beiden Flüchtenden hinweg schleuderten sie Lanzen, Steine und brennende Öllappen an Stäben. Mit letzter Kraft überwanden Archias und Lykopas die beschädigte Mauer beim Holzturm. Von da an liefen sie durch das Nachlager der Flotte bis zum Meer.

In den folgenden Tagen richteten sich die Angreifer vor den Toren von Samos häuslich ein, sie bauten Barrikaden, kontrollierten die Küste und belagerten die Stadt. Tag um Tag verging, ohne dass sie etwas ausrichten konnten. Ernüchterung machte sich breit, und es gingen Geschichten um, die Polykrates als vom Glück begünstigt beschrieben. „Er hat absichtlich einen kostbaren Ring mit einem schön geschliffenen Smaragd ins Meer geworfen und selbst diesen im Magen eines ihm geschenkten Fisches wiederentdeckt. Er kann sich Bildergießer und Erzschmelzer wie Theodoros leisten, und auch einen so berühmten Arzt wie Demokedes aus Kroton, der schon in Aigina und Athen wahre Wunder der Heilkunst vollbracht hat. Ein Talent hat der Heiler in Aigina erhalten, aber Polykrates bot ihm glatt das Doppelte“, wurde gemunkelt.

Hekas, der königliche Wahrsager, streifte durch das Schiffslager und munterte die Soldaten auf: „Bei diesem Tyrannen hält es keiner länger aus! Pythagoras, der mathematische Denker, hat wegen ihm seine Heimat verlassen, und selbst der Pharao von Ägypten, der Arme, wollte mit diesem Mann nichts mehr zu tun haben. Es grauste ihm vor dem tiefen Fall, der auf einen solchen Höhenflug folgen muss! Wem es zu wohl ergeht, den trifft der Neid der Götter!“

Auch der frischgebackene König und die beiden ihn begleitenden Ephoren taten ihr bestes, um die Leute bei Stimmung zu halten. „Der Tyrann ist nicht so gescheit, wie ihr denkt“, behauptete Kleomenes. „Er hat sich mit Gelehrten umgeben, die sich die Erde rund denken. Wir werden ihn eines besseren belehren und ihn davon treiben, bis er von der Scheibe fällt!“ Ein anderes Mal erklärte er: „Polykrates ist ein Feind der Knabenliebe, aber in seinem Palast wimmelt es von schönen Jünglingen und erlesenen Kostbarkeiten. Holt sie euch!“

Die Besatzung der lakedämonischen und korinthischen Flotte sah noch viele Sonnenauf- und Untergänge vor Samos, kam aber mit der Belagerung keinen Schritt weiter. Zäh wie Leder verstrich die Zeit, ohne dass es zu einer Seeschlacht mit zurückkehrenden Samierschiffen oder einem weiteren Landgefecht mit den Eingeschlossenen kam. Selbst die Luft stand unbeweglich still, als hätte sie eine unbekannte Macht zum Abwarten verdonnert.

Der ehrgeizige Spartanerkönig wurde übellaunig und des Ausharrens überdrüssig. Nach dem Abendopfer am Ende des achtunddreißigsten Tages nahm er sich den Jamiden Hekas zur Brust. Sein ganzer angestauter Zorn lag in seinen herausquellenden Augen, als er den heiligen Diener am Gewand packte und wild schüttelte. „Was ist jetzt Hekas? Wieso erhalten wir keine günstigen Zeichen? Hast du mir nicht gedeutet, dass Polykrates zum Hades geht? Ich spucke auf deine Kunst! Er wird in seinen Schätzen alt werden!“, tobte er und verdächtigte Hekas: „Du hörst auf meinen Bruder Dorieus, der sich nicht mit den Athenern anlegen will. Bist du auch der Ansicht, dass ich den attischen Tyrann und seine Helfershelfer auf den Inseln in Ruhe lassen soll, weil er unser Gastfreund ist? Aber nach Naxos und Samos kommt auch Athen dran. Nach Lygdamos und Polykrates ist Peisistratos auf seiner Akropolis fällig. Genau so, wie wir es in Korinth und Sikyon gehalten haben... Weg mit den Starken, die Sparta im Wege stehen! Ich habe dich durchschaut, Hekas, du glaubst wohl wie Damaratos, es sei besser für uns, perserfreundlich zu sein? Noch ist dieser falsche Reiter nicht mein Mitregent!“

Der Seher wandte sich unter dem harten Griff des Königs: „Nein, nicht, hör auf, vergreif dich nicht an mir, Herr, es wird kommen, wie ich gesagt habe. Der Tyrann erstickt an Gold und Silber, er endet gewaltsam. Hörst du, Kleomenes, Polykrates ist kein friedlicher Tod beschieden!“

Der Herrscher machte eine wegwerfende Handbewegung, wodurch Hekas loskam und sich taumelnd an einer Zeltstange festhalten konnte.

„Ihr Seher seid alle Scharlatane! Oder hast du dein eigenes Unheil, das ich dir jetzt bereite, etwa vorausgesehen?“, brüllte Kleomenes und ergriff die hölzerne Skytale, um sie Hekas über den Kopf zu hauen.

„In Lykurgos Namen, hört auf!“, brüllte da der Ephor Autokles, schob sich energisch zwischen die beiden Männer und hielt sie mit ausgesteckten Armen auf Distanz. „Schluss jetzt, ihr Streithämmel!“

Hekas, nicht geneigt, klein beizugeben, beugte sich hinter dem Aufseher zur Seite, damit er dem König ins Gesicht sehen konnte und versetzte in ruhigem Ton: „Kleo, ich weiß, dass du mich hasst, weil du denkst, ich ziehe deinen Bruder Dorieus vor. Und wenn es so wäre! Und wenn ich ihn tausendmal lieber als König sähe! Ja selbst wenn das andere Herrscherhaus in meinem Herzen das erste wäre. Klar ist doch, dass du gegenüber Dorieus und dem zweiten König das Erstgeburtsrecht hast. Ob ich mir nun Dorieus an deine Stelle wünsche und Damaratos als Nachfolger für unseren guten König Ariston, das spielt doch überhaupt keine Rolle. Egal wie ich zu beiden stehe! Meine Vorhersage, was Polykrates angeht, bleibt trotzdem wahr. Nur der Zeitpunkt, zu dem sie eintrifft, den wissen die Götter allein...“

„Ich hänge dich zum Hyänenfell an die Mastspitze! Vielleicht taugst du wenigstens dazu, die Blitze abzuhalten!“, drohte Kleomenes.

„Nicht doch! Ich habe dir schon so manchen Gefallen getan! Sogar schon, als du noch ganz jung warst“, wehrte Hekas ab. „Der Messenier, den du mit dir führst, müsste dich doch daran erinnern. Den habe ich dir besorgt!“

„Du meinst den blöden »Hund«? Auf den kann ich verzichten, seine Kräuter brauche ich nicht, der Wein ist mir eine bessere Medizin. Noch heute bekommt er einen Tritt von mir, so wie du jetzt!“, entgegnete Kleomenes.

Schnaufend umrundete er den Jamiden und bewegte sich auf ihn zu, wurde aber durch den Ruf des Postens aufgehalten: „Hypermenides kommt, die Korinther wollen mit dem König sprechen!“

Der Ephor Autokles schaute von einem zum andern, warf Kleomenes einen fragenden Blick zu und ging, sobald der König Haltung angenommen hatte, nach draußen. Von Lanzenträgern umgeben, warteten die Korinther an der Verschanzung.

Autokles begrüßte die Führer der Verbündeten freundlich und führte sie dann zur Lagebesprechung zum König. Es wurde eine hitzige Debatte, bei der Hypermenides im Namen der korinthischen Flotte auf den Abzug drängte. Kleomenes hingegen wollte trotz aller Schwierigkeiten noch ausharren und nicht mit leeren Händen nach Sparta zurückkehren. Im Geiste sah er Dorieus grinsen, und deshalb versprach er: „Nur noch ein paar Tage, dann öffnen die Samier freiwillige ihre Tore!“

Kaum waren die Korinther zu ihren eigenen Schiffen zurückgekehrt, wies Kleomenes den Jamiden an, vor dem Frühmahl genaue Opferschau zu halten.

„Es ist nichts Eindeutiges dabei herausgekommen“, berichtete Hekas am anderen Tag nach getaner Arbeit bedrückt, „die Leber ist so beschaffen, dass sie weder auf Vernichtung, noch auf Sieg hinweist.“

„Dann ist ja alles in Ordnung“, schnaubte Kleomenes verächtlich und beorderte die Kommandanten seiner Sturmtruppe zu sich.

Die Soldaten im Schiffslager warteten ruhig auf ihre Tagesbefehle, jeder beschäftigte sich auf seine Weise. Lykopas hatte sich auf der Erde ausgestreckt, den Kopf auf seinen Schild gelegt und das Schwert griffbereit neben seiner Rechten. Ein kahlköpfiger Periöke, großgewachsen und muskulös, aber offensichtlich mit weichen Knien, verrichtete im Busch unmittelbar hinter ihm sein nicht enden wollendes Geschäft. Archias, der seine Waffe polierte, bekam den Duft direkt in die Nase, richtete sich auf und scheuchte ihn aufgebracht mit Verwünschungen und Schlägen davon. Ausgiebig kämmte er sich danach die Haare und machte gerade Freiübungen, als einer der Ehrenwächter des Königs den messenischen Riesen anbrachte.

„Den schickt euch der König mit Dank zurück. Vielleicht könnt ihr »des Kleomenes Hund«“ als Waffenträger brauchen.“

Lykopas lächelte erfreut, doch sein Freund musterte den Messenier ungehalten. Wie eine Salzsäule und noch größer, als er ihn in Erinnerung hatte, stand er in der Gegend herum.

„Kerl, du siehst aus wie bestellt und nicht abgeholt! Geh und besorge uns Kränze! Lykopas mag nicht unbekränzt in einen Kampf gehen!“, herrschte er ihn an und begann sich einzufetten.

„Richtig“, brummelte Lykopas, „wir müssen für den Tod oder für den Sieg gleichermaßen gerüstet sein.“

In der Zeit des Wartens dachte Archias an seine junge Frau. Bisher hatte er sie nur einmal in der Hochzeitsnacht berührt. Da war sie mit kahlgeschorenem Kopf auf dem Strohlager in der dunklen Hütte gekauert und er hatte sie wortlos genommen. Wie stolz sie mit ihrem geschwellten Bauch am Ufer gestanden war! Ob sie wohl jetzt schon etwas Bleibendes von ihm in den Armen trug?

Der messenische »Hund« war kaum zurück, als Lykopas aufsprang und dem Riesen ein Bündel Lanzen in die Faust drückte: „Du folgst uns auf dem Fuß, und wenn einer von uns verwundet wird, trägst du ihn aus dem Getümmel!“ Er hatte keine Zeit, sich zu vergewissern, ob der Messenier ihn verstand, denn plötzlich wurde Signal gegeben.

„Die Samier machen einen Ausfall!“, schrie die Wache. Im Nu waren sie kampfbereit, um den Angriff abzuwehren. „Treibt sie zurück! Stürmt die Burg!“ Hastige Befehle ergingen, und befriedigt registrierte Archias, dass der feige Kacker in ihrer Nähe zur Sicherung des Lagers zurückbleiben musste. Der würde keine Gelegenheit haben, sich an der Plünderung zu beteiligen. „Es geht los!“ bedeutete ihm der Freund. Das Flötensignal ertönte und Archias Arm verschmolz mit dem Schutzschild.

Gemessen rückten sie den jetzt anstürmenden Verteidigern von Samos zuleibe und hoben sich das wilde Geschrei für den Zeitpunkt auf, zu dem sie ihren Atem spüren würden.

Die Gegner waren vom Wachturm oben bei der Burg schneller den grünen Buckel herabgekommen, als die Spartaner und ihre Helfer die Mauern hinauf. Der Berg über der in der Niederung gelegenen Stadt war schwarz von Menschen. In großer Zahl rückten die Samier vor, ergänzt von dem nicht enden wollenden Strom ihrer Söldnern. Ständig spuckte die alles beherrschenden Anhöhe neue Bogenschützen aus, die hinter dem Bergrücken auftauchten und in einer Ameisenstraße heranzogen. „Werft sie ins Meer!“, hieß der Schlachtruf der Samier.

Die Lakedämonier und Korinther fingen die erste Welle auf, hieben sie nieder und setzten über sie hinweg. Der Ansturm versiegte so plötzlich, wie er gekommen war. Samier und Söldner flohen zurück, Archias und Lykopas hielten als Schnitter reiche Ernte. Die Freunde feierten ein Schlachtfest, und die Blutspur, die sie zogen, reichte bis zur Mauer. In ihrem Rausch waren sie die ersten, die eindrangen, aber auch die letzten.

Der messenische »Hund«, der ihnen getreulich auf dem Fuß gefolgt war, sah sich hingegen um und erblickte die in wilder Verfolgungsjagd heran sprengenden Spartaner. In seinem geschundenen Schädel arbeitete es. Statt weiterzulaufen, ging er ihnen freundlich lächelnd entgegen, aber die Bewaffneten bemerkten ihn in der Hektik nicht. Am Tor blieb er stehen, schüttelte verwundert den Kopf und gebrauchte seine Bärenkräfte, um den dort noch verbliebenen Samiern zu helfen, es den Soldaten vor der Nase zuzuschlagen.

Jetzt hielten auch Archias und Lykopas inne und gewahrten, dass ihre Kameraden ihnen nicht mehr folgten. Ehe sie sich besannen, war ihnen der Rückweg abgeschnitten und jede Chance zum Entweichen genommen.http://www.amazon.de/dp/B007XF7E04

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