Opas Schatten an der Wand
Text © Jutta Scherer-Frank
In der alten Burg, mit der modernen Postanschrift „Hügelstraße 6“ wohnte der kleine Jens tagsüber fast ganz allein. Erst wenn es Abend wurde, kehrten Mama und Papa von ihren Geschäften dorthin zurück. Unten im Erdgeschoss lebten Tante Inge und Onkel Manuel, die sich aber um nichts kümmerten, außer um sich selbst. Über der Wohnung von Jens lag der Speicher, den seit Jahren niemand betreten wollte, da Einsturzgefahr bestand. Es führte zwar eine Treppe hinauf, auf der die Kartoffelkiste stand, doch der Dachboden war so brüchig, dass selbst Jens mit seinem Federgewicht eingebrochen und krachend in der Wohnstube gelandet wäre, wenn er es gewagt hätte, auf den morschen Brettern zu laufen. Andere liefen dort schon, nämlich die leichtfüßigen Ratten, die sich ab und zu eine Knolle stibitzten und sich auch schon einmal ihr Nest im Kartoffelkorb bereitet hatten.
Für Jens gab es eine Hauslehrerin, die unheimlich gut rechnen und lesen konnte, aber keinen Spielkameraden, abgesehen von seinem Teddybären und dem Hofhund, der keinen Namen hatte. Aber zum Glück war da ja auch noch der Großvater, der Jens Geschichten erzählte und mit ihm Tischtennis spielte. Sie benutzten dazu heimlich die große Tischplatte im sogenannten Speiseraum, einem Saal, der sonst verschlossen war und nur an Festtagen wie Weihnachten geöffnet wurde. Opa wusste, wo der Schlüssel hing und gab sein Wissen an Jens weiter.
Großvater glaubte ganz fest an Gespenster, denn schon mehrmals waren welche in seinem Schlafzimmer gewesen, hatten sich artig vor seinem Bett aufgestellt und ihn freundlich gegrüßt. Einmal war Opa in der Küche gewesen, die so dicke Mauern hatte, dass kein Laut herein oder hinaus drang. Nur ab und zu kam eine Meise, die von der Butter pickte, die auf dem Steinsims hinter der Fensterscheibe der Küche kühl gehalten wurde. Dort in der Küche, sagte sein Opa, habe ihm eines Tages ein Gespenst ins Ohr geschrien. Ganz dicht und laut schrie es „Huch!“. Und Opa dachte zuerst an Jens, aber der war gar nicht da, sondern saß auf dem kalten Klo, das nur ein Loch auf einem dicken Brett war, durch das man außer den vielen weißen Maden am Rand noch den Burggraben sehen konnte. Da wusste Opa, dass ihn die ehemalige Köchin erschrecken wollte, die zu Lebzeiten auch immer „Huch!“ gemacht hatte, wenn ihr etwas aus der Hand gefallen war.
Nachdem Jens mit seinem Großvater Tischtennis gespielt und gewonnen hatte, saßen sie vergnügt im Speisesaal und Opa erzählte von früher, als in der Burg noch ganz viele Leute lebten und arbeiteten. Plötzlich verschluckte sich Jens an seinem Kakao, denn er glaubte einen Mann zu sehen, der durch die Wand kam. „Hatte er einen Hut auf?“ erkundigte sich Opa, was Jens bestätigen konnte. „Den habe ich auch schon gesehen, denn an dieser Stelle in der Wand war früher eine Tür, die inzwischen zugemauert worden ist“, sagte Opa und nickte wissend. Als die Eltern zurück kamen, später als erwartet, begrüßte sie Jens und berichtete: „Heute habe ich mein erstes Gespenst gesehen!“ Mutter lachte nur, aber Vater erkundigte sich: „Kam es aus der Wand, dort wo früher eine Tür war?“ Da hörte Mutter zu lachen auf und sagte streng: “Jens, du bist im Speisesaal gewesen!“
Es kam wie es kommen musste, eines Tages war Opa in seinem Bett eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Traurig schlich sich Jens in den großen Speisesaal, wo niemand mehr war, der mit ihm Tischtennis spielte. Aber da, da kam ein Gespenst durch die Wand und winkte Jens zu. Es hatte keinen Hut auf sondern war eindeutig der Großvater, der grüßend verschwand. Als das Jens erzählte, sagten eine Eltern, dass es Zeit sei, ihn in der Schule anzumelden, denn dort würde er richtige Kinder und keine Gespenster treffen.
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